Die Vaihinger Gesellschaft
für Stadtgeschichte, Museumsarbeit und Kultur e.V.

Ensingen im Königreich Württemberg (1806-1918)
Vortrag von Peter Schaller am 27. Juni 2022  bei der JHV der Vaihinger Gesellschaft

Ensingen ist ein Dorf mit einer großen Gemarkung und guten landwirtschaftlichen Böden. Es gibt viele Weinberge und ausreichend Wald. Im 19. Jahrhundert gehörte der Weiler Kleinglattbach zu Ensingen. Doch trotz der großen Gemarkung und der guten Böden waren die Verhältnisse im 19. Jahrhundert eher ärmlich. Schlechte Ernten konnten in der ersten Jahrhunderthälfte schnell zu Hungerkrisen führen.
Dennoch gab es im Ort arm und reich. Die alteingesessenen Familien mit dem großen Grundbesitz waren reicher, die später hinzugekommenen und die mit den kleineren Grundstücken waren meist ärmer. Zu den reicheren Bauern zählten die Bauschs und die Schneiders zu den ärmeren z.B. die Hahnenkratts und die Scheytts. Deutlich wird dies auch an den Ämtern, die die Ensinger Bürger ausübten: Die Reichen waren beispielsweise Stiftungspfleger oder Frohnmeister, die Armen Amtsdiener oder Feldschütz.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die Bevölkerung stark zu. Sie stieg um mehr als ein Drittel. Deshalb musste für die große Kinderzahl im Jahr 1834 ein neues Schulhaus gebaut werden. Es gab nun zwei Schulzimmer für jeweils 100 Schüler. Die 123 Schüler im Jahr 1834 konnten im neuen Schulgebäude jetzt gut untergebracht werden.
Gegen die große Kinderzahl setzte die Regierung Heiratsbeschränkungen durch. Männer unter 25 Jahren und solche, die keinen eigenen Betrieb führten, durften nicht heiraten. Die Volkskundlerin Carola Lipp nennt es das „Armenzöllibat der Mittellosen“.
Diese behördlichen Zwangsmaßnahmen erwiesen sich jedoch als untauglich. Die Bevölkerung nahm weiter zu und es gab mehr uneheliche Kinder. Die Verhältnisse in Ensingen und Kleinglattbach bestätigten diese Entwicklung. Zeitweise wurden fast 20 Prozent der Kinder in Württemberg unehelich geboren. Erst die Reichsgesetze nach der Reichsgründung 1871 beseitigten die Verehelichungsbeschränkungen und ließen die Unehelichenrate stark sinken.
Bei einer ständig steigenden Bevölkerung musste die durchschnittliche Betriebsgröße der Bauernhöfe In den südwestdeutschen Realteilungsgebieten zwangsläufig schrumpfen. Bei einer Erbteilung wurde der Besitz einer Familie gleichberechtigt unter den Töchtern und Söhnen aufgeteilt. Dieses an sich gerechte Erbsystem hatte bei einer größeren Anzahl von Erbberechtigten kleinere Grundstücke zur Folge.
Die fortgesetzte Realteilung führte in der Landwirtschaft und im Weinbau zu einer regelrechten Besitzzersplitterung. Das zeigt auch die zunehmende Parzellierung in Ensingen und Kleinglattbach. Zum Teil waren es nur noch kleinste Streifen, die nicht mehr effizient zu bearbeiten waren. Ein hoher Anteil der nutzbaren Fläche ging außerdem für Grenzstreifen und Zufahrtswege verloren. Für den Anbau von Viehfutter waren viele Grundstücke mittlerweile zu klein, auch deshalb wurden verstärkt Kartoffeln angebaut. In 25 Jahren steigerte sich die Anzahl der Parzellen um mehr als die Hälfte: von rund 6500 im Jahre 1848 auf rund 9500 im Jahr 1873.
Was konnte man tun, damit die Bauernhöfe nicht immer kleiner wurden? Die Bauernfamilien mit den großen Höfen versuchten meist untereinander zu heiraten und die Grundstücke zusammenzuhalten. Die Großfamilie Bausch hatte eine regelrechte Kunst darin entwickelt, auch nur im eigenen Familienverband zu heiraten. Bei den kleinen Bauernhöfen funktionierte dies oft nicht. Ihre Grundstücke wurden immer kleiner, bis sie kaum noch eine Familie ernähren konnten.
In der Landwirtschaft und im Weinbau wurde es für immer mehr Dorfbewohner schwer, ein Auskommen zu finden. Das Landhandwerk hatte vor allem in den Krisenjahren der 1840er Jahre zu wenige Aufträge. Dennoch drängten vor allem junge Leute in die handwerklichen Berufe. Was aber tat der Dorfhandwerker in diesen Jahren, wenn er kaum Arbeit fand? Er arbeitete nebenher als Amtsdiener oder Nachtwächter, Taglöhner oder Weinbergschütze und, wenn er noch ein paar Grundstücke hatte, bestellte er sie als Nebenerwerbslandwirt. Im einst angesehenen Leinenweberhandwerk betätigten sich manche wie der Weber Seizinger nur noch als Lumpensammler. Und was taten die Menschen, die vom eigenen Dorf nicht mehr ernährt werden konnten? Sie wanderten ab in die großen Städte wie Stuttgart oder Pforzheim und arbeiteten dort als Kutscher, Dienstmädchen oder Taglöhner. Sie schlugen sich mehr schlecht als recht durch. Nur für die Ensinger und Kleinglattbacher Goldarbeiter lief es besser. Sie erhielten in der Goldstadt Pforzheim einen anständigen Lohn. Dies galt später auch für die Bahnwärter und Eisenbahnarbeiter, die beispielsweise in Mühlacker oder in Kornwestheim ihren Dienst taten.
Und die anderen, die sich im Land keine Chance mehr auf ein auskömmliches Leben ausrechneten, was taten sie? Sie wanderten nach Nordamerika aus und nahmen viel Wissen und auch Kapital in das neue Land mit. Die Wirtschaftskrise ging in den deutschen Staaten um etwa 1850 zu Ende. In Württemberg dauerte sie länger, ungefähr bis 1855.  In der ersten Hälfte der 1850er Jahre verließen besonders viele Auswanderer das Land.
Also halten wir fest, auf der einen Seite gab es Heiratsbeschränkungen und auf der anderen Seite Abwanderung und Auswanderung
Die Auswanderung prägte die Geschichte Württembergs über das gesamte 19. Jahrhundert. Von der Gründung des Königreichs Württemberg im Jahre 1806 bis zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 verließen mehr als 400.000 Württemberger das Land.
Im Jahre 1812 gab es ca. 1.4 Mio. Einwohner in Württemberg, im Jahre 1875 ca. 1.8 Mio. Also verließen ungefähr 20 Prozent in diesem Zeitraum das Land. Bei den ersten Auswanderungswellen in den Jahren 1816/17, 1832/33 und 1846/47 waren nur wenige Ensinger und Kleinglattbacher darunter. Doch je schlechter es den kleineren Bauern, den Weingärtnern, Handwerkern und Tagelöhnern ging, je aussichtsloser ihre Lage erschien, umso mehr stieg die Bereitschaft, den Ort für immer zu verlassen. Während das Auskommen der größeren Bauern im Dorf auch in den Zeiten der Wirtschaftskrisen gesichert war, sahen immer mehr ärmere Dorfbewohner keine Zukunft mehr in ihrer Gemeinde. Der großen Auswanderungswelle von 1852 bis 1854 schlossen sich deshalb auch viele aus dem Flecken an: Von Januar 1852 bis Februar 1854 verließen insgesamt 74 Ensinger und 28 Kleinglattbacher ihren Ort in Richtung Nordamerika. Das war ein bedeutsamer Bevölkerungsschwund. Rund acht Prozent der Bevölkerung verließ in dieser kurzen Zeitspanne die beiden Orte für immer. Nicht nur die Ensinger und Kleinglattbacher verließen das Oberamt Vaihingen. Aus allen 21 Amtsgemeinden wanderten in dieser Zeit insgesamt rund 1.000 Bewohner nach Nordamerika aus.
Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es im Dorf nur wenig gut bezahlte Arbeitsplätze. Die Industrie konnte erst im 20. Jahrhundert einer größeren Zahl von Auspendlern dringend benötigte Arbeitsplätze außerhalb von Ensingen zur Verfügung stellen. Erst mit der Schaffung von neuen Industriearbeitsplätzen in Nordwürttemberg und im benachbarten Baden (Pforzheimer Schmuckindustrie) ging die Auswanderung stark zurück.

Bisher habe ich über die strukturelle Entwicklung in Ensingen gesprochen, jetzt möchte ich einzelne Menschen vorstellen, an deren Lebensgeschichte sich wichtige Entwicklungen des Ortes zeigen lassen.

Ein ganz besonderer Mensch war Otmar Mergenthaler. Er war ein Ensinger, der so gar nicht dem typischen Auswanderer oder dem durchschnittlichen Dorfhandwerker entsprach. Mit vier Jahren kam Ottmar 1858 nach Ensingen. Er war der Sohn des neuen Ensinger Schulmeisters Johann Georg Mergenthaler. Acht Jahre lang ging er bei seinem Vater in die Volksschule. Schon früh zeigte sich sein technisches Talent. Ihm gelang es als Kind, die defekte Ensinger Kirchturmuhr wieder in Gang zu setzen. Nach der Schulzeit erlernte er bei seinem Onkel Louis Hahl in Bietigheim das Uhrmacherhandwerk.
Nach abgeschlossener Lehre wanderte er 1872 nach Washington in die Vereinigten Staaten aus, um bei seinem Vetter August Hahl, dem Sohn des Lehrmeisters, seine Kenntnisse zu erweitern. Dort arbeitete er in dessen Fabrik für elektrische Instrumente. 1875 kam Mergenthaler erstmals mit dem Problem des Setzens in Berührung. Er verbesserte die Konstruktion einer lithographischen Schreibsetzmaschine. Die Rationalisierung des Setzens versuchte er auf den Buchdruck zu übertragen und konstruierte eine Materprägemaschine, die durch Tastenanschlag die Buchstaben in einen Pappmachéstreifen einprägte.
1878 entschied sich Mergenthaler endgültig für die USA. Er wurde amerikanischer Staatsbürger und heiratete dort. 1883 trennte er sich von seinem Vetter und gründete ein eigenes Unternehmen, die »National Typographic Company«. 1885 baute er eine Maschine nach dem Prinzip des Matrizensatzes, womit er die Setztechnik revolutionierte. Er gründete die »Mergenthaler Printing Company«. Seine neue Maschine »Blower« eignete sich besonders für den Zeitungssatz, sodass sie am 3. Juli 1886 erstmals zum Satz der »New York Tribune« eingesetzt wurde. Der Verleger der Tribune gab ihr den Beinamen »Linotype«: eine Buchstabenzeile, a line of types. Im Jahre 1890 gelang Mergenthaler mit der verbesserten Version »Simplex-Linotype« der endgültige Durchbruch im Druckgewerbe. 1891 gründete er die »Mergenthaler Linotype Company« mit Hauptsitz in New York. Mergenthaler wurde ein wohlhabender Mann. Doch den Erfolg seiner Maschinen konnte Mergenthaler nur wenige Jahre genießen. 1899 starb er mit nur 45 Jahren an Tuberkulose. Er hinterließ eine Frau und vier Kinder. Wenige Jahre zuvor, 1892, hatte er noch einmal seinen Vater in Deutschland besucht.
Die Erfindung des in Ensingen zur Schule gegangenen und nach Nordamerika ausgewanderten Ottmar Mergenthaler brachte eine technische Revolution im Druckgewerbe mit sich. Die über eine Tastatur zu bedienende, Satz und Guss verbindende Linotype-Maschine war nach dem Historiker Jürgen Osterhammel die bedeutendste satztechnische Innovation seit Gutenberg. Thomas Alva Edison bezeichnete sie als das achte Weltwunder.

An der Lebensgeschichte eines weiteren Ensingers kann man deutlich zeigen, wer in den 1850er Jahren das Sagen in der Gemeinde hatte. Aus heutiger Sicht würde man denken, es war der Bürgermeister bzw. der Schultheiß oder der Gemeinderat. Im 19. Jahrhundert hätte es auch der Ortsadelige sein können, den gab es in Ensingen allerdings nicht. Nein es war in einer speziellen Auseinandersetzung der Pfarrer, der sich gegen den Bürgermeister durchsetzte. Es war Pfarrer Georg Haagen (geb. 1800 gest. 1875).
Pfarrer Hagen kam 1848 nach Ensingen. Er folgte dem alten Pfarrer Carolus Friedrich Grunsky, der im gleichen Jahr verstorben war. Pfarrer Hagen war Beamter einer Landesbehörde. Er war der einzige Akademiker im Ort und galt als äußerst meinungsstark. Unerbittlich vertrat er seine Position. Das Zusammenführen der Gemeinde und das Gemeinschaftliche war dagegen nicht seine Stärke.
Zwischen 1854 und 1860 führte er einen heftigen Streit mit dem Schultheißen Johannes Schneider. Zunächst konnte der Schultheiß punkten. Er warf dem Pfarrer vor, die Gemeinde zu spalten. Der Kirchenbesuch gehe immer weiter zurück. Der Schultheiß zog Bürgerausschuss und Gemeinderat auf seine Seite. Eine Delegation fuhr nach Stuttgart und bat die Oberkirchenbehörde, den Pfarrer zu versetzen. Daraufhin setzte der Pfarrer zum Gegenschlag an. Mit einer Eingabe an das Oberamt legte Pfarrer Haagen die Verfehlungen des Schultheißen offen. Dessen Hang zum Alkohol, Unregelmäßigkeiten bei der Abrechnung von Gebühren und ein auffälliger Eigennutz bei einem Gütertausch wurden dem Schultheißen zum Verhängnis.
Das Oberamt schlug sich schließlich auf die Seite des Pfarrers. Es legte dem Schultheißen Schneider nahe, vom Schultheißenamt zurückzutreten, andernfalls würde man ihn entlassen. Schneider trat schließlich am 25. Mai 1860 zurück. Gemeinderat und Bürgerausschuss schrieben nach dem Rücktritt, dass sie sich von Schneider wohl hätten blenden lassen. Pfarrer Haagen hatte sich durchgesetzt und das gesellschaftliche Leben in Ensingen viele Jahre geprägt.

Die dritte Person, deren Lebensgeschichte ich kurz darstellen möchte, lebte nicht direkt in Ensingen, sondern in Kleinglattbach. Sie hatte aber großen Einfluss auf die weitere Entwicklung von Ensingen.
Ich hatte vorher festgestellt, dass der Ortsadel in Ensingen keine Rolle mehr spielte. In Kleinglattbach gab es dagegen einen Adligen und der führte eine wichtige Entscheidung in Ortsangelegenheiten herbei. Es war Freiherr Konstantin Karl Sebastian von Neurath (geb. 1847, gest. 1912).
Er führte am 1. September 1894 die Trennung Kleinglattbachs von Ensingen herbei. Die seit 1713 immer wieder von dem Teilort geführten Verhandlungen um eine Loslösung von Ensingen hatten durch seine Hilfe schließlich zum Erfolg geführt. Kleinglattbach war seit 1894 eine eigene Gemeinde. Ensingen behielt 3/5 der Markung, Kleinglattbach erhielt 2/5. Die Bevölkerungszahl reduzierte sich von 1240 im Jahre 1890 (mit Kleinglattbach) auf 835 im Jahre 1895 ohne Kleinglattbach.
Wie gelang dieses Kunststück? Neurath war ein enger Vertrauter des Königs Wilhelm II und konnte seine engen Kontakte nutzen.
Sein Vater Constantin Franz von Neurath hatte 1863 das Hofgut in Kleinglattbach erworben. Dieser war württembergischer Außenminister, Justizminister und Präsident des Geheimen Rats gewesen. Der Sohn Konstantin Karl Sebastian studierte von 1865 bis 1870 Rechtswissenschaften an den Universitäten in Tübingen und Heidelberg. 1872 heiratete er Mathilde Freiin von Gemmingen-Hornberg (1847–1924). Sie hatten zusammen drei Söhne, darunter den späteren deutschen Außenminister Konstantin Freiherr von Neurath. Im Rahmen seiner politischen Betätigung gehörte Neurath von 1881 bis 1890 als Abgeordneter der Deutschen Reichspartei dem Reichstag an. Er vertrat dort den Wahlkreis Württemberg 4 (Böblingen, Vaihingen, Leonberg, Maulbronn). Neurath war Oberkammerherr am württembergischen Königshof. Er starb im Jahre 1912. Das Verhältnis zum König war so eng, dass dieser an der Beerdigung in Kleinglattbach teilnahm.
Schluss
Die Ensinger beschwerten sich über die Loslösung von Kleinglattbach. Vor allem fanden sie, dass Kleinglattbach einen zu großen Teil der Markung zugesprochen bekam. Ob gemeinsam oder getrennt ging es in den beiden Gemeinden im 19. Jahrhundert ständig auf und ab. Wirtschaftskrisen folgten wieder bessere Jahre. Doch die Selbstständigkeit von Kleinglattbach währte nur einige Jahrzehnte. Im Jahre 1972 wurden Ensingen und Kleinglattbach nach Vaihingen eingemeindet. Über den Verlust der Eigenständigkeit sind auch manche Ensinger bis heute nicht hinweggekommen.
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